Psyche & Krankheit

Vorbemerkung: Die Begriffe Psyche und Seele werden nachfolgend (wie auch im allgemeinen Sprachgebrauch) synonym verwandt.

Das Verständnis von Krankheit im Sozialrecht

Definition von Gesundheit: Weltgesundheitsorganisation WHO

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat den Begriff der Gesundheit 1946  in der  Präambel zur Verfassung der WHO  so definiert:

Health is a state of complete physical, mental an social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.

Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen.

Diese Definition hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt. Eine aktuelle Fassung finden Sie auf der Seite der WHO (Stand Juni 2022) - derzeit nur in der englischen Version:

Concepts in mental health

Mental health is a state of mental well-being that enables people to cope with the stresses of life, realize their abilities, learn well and work well, and contribute to their community. It is an integral component of health and well-being that underpins our individual and collective abilities to make decisions, build relationships and shape the world we live in. Mental health is a basic human right. And it is crucial to personal, community and socio-economic development.

Mental health is more than the absence of mental disorders. It exists on a complex continuum, which is experienced differently from one person to the next, with varying degrees of difficulty and distress and potentially very different social and clinical outcomes.

Mental health conditions include mental disorders and psychosocial disabilities as well as other mental states associated with significant distress, impairment in functioning, or risk of self-harm. People with mental health conditions are more likely to experience lower levels of mental well-being, but this is not always or necessarily the case.

Konzepte der psychischen Gesundheit (Übersetzung: JT)

Psychische Gesundheit ist ein Zustand des psychischen Wohlbefindens, der es Menschen ermöglicht, die Belastungen des Lebens zu bewältigen, ihre Fähigkeiten zu entfalten, gut zu lernen und zu arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft zu leisten. Sie ist ein integraler Bestandteil von Gesundheit und Wohlbefinden, der unsere individuellen und kollektiven Fähigkeiten untermauert, Entscheidungen zu treffen, Beziehungen aufzubauen und die Welt, in der wir leben, zu gestalten. Psychische Gesundheit ist ein grundlegendes Menschenrecht. Und sie ist entscheidend für die persönliche, gemeinschaftliche und sozioökonomische Entwicklung.

Psychische Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit psychischer Störungen. Sie beruht auf einem komplexen Kontinuum, das von Person zu Person unterschiedlich erlebt wird, mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Belastungen und möglicherweise sehr unterschiedlichen sozialen und klinischen Ergebnissen.

Zu den psychischen Erkrankungen zählen psychische Störungen und psychosoziale Behinderungen sowie andere psychische Zustände, die mit erheblicher Belastung, Funktionseinschränkungen oder dem Risiko einer Selbstverletzung einhergehen. Bei Menschen mit psychischen Erkrankungen ist es wahrscheinlicher, daß sie ein geringeres Maß an psychischem Wohlbefinden erfahren, doch ist dies nicht immer oder notwendigerweise der Fall.

Definition von Krankheit BSG:

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in seinem Urteil v. 16.05.1972 Krankheit im Sozialrecht (SGB) und damit auch in der gesetzlichen Krankenversicherung als "regelwidrigen, körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand der Arbeitsunfähigkeit oder Behandlung oder beides nötig macht" definiert.

Definition von Krankheit in der Psychotherapierichtlinie (Stand: 2/2021)

Die Psychotherapierichtlinie ist als nähere Ausgestaltung des Sozialrechts zu verstehen: Das Verständnis von Krankheit wird in § 2 folgendermaßen formuliert:

In diesen Richtlinien wird seelische Krankheit verstanden als krankhafte Störung der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen. Es gehört zum Wesen dieser Störungen, dass sie der willentlichen Steuerung durch die Patientin oder den Patienten nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind. (§ 2 Abs. 1)

Krankheit bzw. "seelische Krankheit" kann nach der Richtlinie in Form

zum Ausdruck kommen bzw. erkennbar werden, "denen aktuelle Krisen seelischen Geschehens, aber auch pathologische Veränderungen seelischer Strukturen zugrunde liegen können" (§ 2, Abs. 2). Seelische Strukturen werden dabei "als die anlagemäßig disponierenden und lebensgeschichtlich erworbenen Grundlagen seelischen Geschehens, das direkt beobachtbar oder indirekt erschließbar ist" verstanden (§ 2, Abs. 3).

"Auch Beziehungsstörungen können Ausdruck von Krankheit sein; sie sind für sich allein nicht schon Krankheit im Sinne dieser Richtlinien, sondern können nur dann als seelische Krankheit gelten, wenn ihre ursächliche Verknüpfung mit einer krankhaften Veränderung des seelischen oder körperlichen Zustandes eines Menschen nachgewiesen wurde." (§ 2, Abs. 4)

Die Richtlinie unterscheidet zwischen seelischer Krankheit  und ihrer Symptomatik, die einerseits durch seelische, andererseits durch körperliche Faktoren verursacht sein kann, oder auch durch eine Mischung beider Faktoren. Deshalb ist vor jeder psychotherapeutischen Behandlung eine diagnostische Untersuchung hinsichtlich psycho-somatischer und somato-psychischer Zusammenhänge durchzuführen (bei nichtärztlichen Psychotherapeut*innen ist ein Konsiliarbericht zum körperlichen Befund durch eine/n Ärztin/Arzt zu erstellen (vgl. Kommentar Psychotherapie-Richtlinie, 12. Aufl.  2021: 22 und 147f).

Nur soweit und solange eine seelische Krankheit vorliegt kann Psychotherapie im Rahmen der Richtlinie (also in Form einer vertragsärztlichen Behandlung in der gesetzlichen Krankenversicherung) erbracht werden. Die Feststellung einer seelischen Erkrankung durch die behandelnden Psychotherapeut*innen ist daher unabdingbare (wenn auch nicht hinreichende) Voraussetzung einer Richtlinien-Behandlung (§§ 1 und 2).

Psychotherapeutische Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung können nicht erbracht werden, wenn diese nicht dem Erkennen einer Krankheit, der Heilung, der Verhütung der Verschlimmerung oder Linderung einer Krankheit dient  Dies gilt ebenso bei:

Anmerkungen zum Krankheitsbegriff der Psychotherapie-Richtlinie:

Die Richtlinie verstehen Krankheit ausdrücklich nicht als Beschreibung eines oder mehrerer Symptomen (Syndrom), sondern als einen ätiologisch verursachten Prozeß, der von einer Veränderung des seelischen oder körperlichen Zustandes infolge aktueller Krisen oder pathologische Veränderungen seelischer Strukturen (anlagemäßige Dispositionen und lebensgeschichtlich erworbene Strukturen) bestimmt ist. Dessen ungeachtet erfolgt die Feststellung psychischer (psychosomatischer und körperlicher) Erkrankungen im Rahmen der Internationalen Klassifikation ICD 10, Kapitel V (F): Psychische Störungen. Dort werden jedoch ausschließlich Symptome beschrieben und in nosologischen Einheiten klassifiziert. Auch aus diesem Grund wurde für die beiden Richtlinienverfahren tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie von einem für diese Verfahren qualifizierten Expertengremium eine operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD) entwickelt. Diese orientiert sich am ICD-Modell, ergänzt es jedoch um psychodynamisch relevante diagnostische Achsen. In der zweiten Fassung (OPD 2) werden auch therapeutische Prozesse, Ressourcen von Patient*innen und die Therapieplanung durch die Bestimmung von Therapieschwerpunkten erfaßt.

Anmerkungen zum Thema Diagnosen:

Während sich im amerikanischen Raum das DSM als Klassifikation durchgesetzt hat, ist im europäischen Raum das ICD gebräuchlich - und im System der GKV (und auch der PKV) verpflichtend. Die aktuelle Fassung wird vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Köln) - DIMDI veröffentlicht.

Bereits seit Anfang 2022 ist die ICD 11 in Kraft getreten (11. Revision der ICD der WHO). Sie findet in Deutschland bislang allerdings keine Anwendung (Veröffentlich auf der Seite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereit des Bundesgesundheitsministeriums.

Aus der Sicht der psychoanalytisch begründeten Verfahren (tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie) ist die deskriptive Diagnostik nicht der Weisheit letzter Schluß (siehe oben: OPD), daher ist (mindestens für die Berichte an die/den Gutachter*in) auch eine zusätzliche neurosenpsychologische Diagnose wichtig, die das Leiden, den unbewußten Konflikt und das Strukturniveau (Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr, Objektwahrnehmung, Kommunikation, Bindung) benennt.

Literatur und Quellen:

Arbeitskreis OPD [Hg.] (1996): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD). Grundlagen und Manual. Bern: Huber

Arbeitskreis OPD [Hg.] (2006): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. Bern: Huber

DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Köln): ICD-10-GM (Version für Deutschland 2017)

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM):  ICD-11

Dieckmann, M. & Becker, M. & Neher, M. [Hg.] (2021): Kommentar Psychotherapie-Richtlinien (Faber & Haarstrick). München: Urban & Fischer, 12. Auflage 2021

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Praxis für Psychoanalyse und Psychotherapie - Dr. Jürgen Thorwart

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